Familienkonflikte: Was tun bei Kontaktabbruch?
- Judith Henkys
- 8. Apr.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Apr.
Wodurch kann es zum Kontaktabbruch kommen und unter welchen Umständen kann ein Kontaktabbruch zu einem oder mehreren Familienmitgliedern sinnvoll sein?
Eine allgemein gültige Aussage darüber, ob und wann ein Kontaktabbruch sinnvoll ist, lässt sich nur schwer treffen, da jeder Kontaktabbruch anders und jede Person einzigartig ist. Jedes Familiensystem funktioniert auf seine eigene Weise.
Oft markiert ein Kontaktabbruch eine Grenze, die sagt: „So wie bisher, kann es nicht mehr weitergehen. Die Auswirkungen sind oder wären zu groß, wenn es so bliebe, wie es ist.“ Wer diese Grenze setzt, möchte sich schützen. Der Kontaktabbruch dient hier als Lösungsstrategie für die empfundene eigene Sicherheit. Daher sollte diese Grenze angenommen und respektiert werden, auch wenn dies erst einmal schmerzhaft ist oder vielleicht unverständlich scheint.
Ein Kontaktabbruch muss nicht immer bedeuten, dass die Person, zu der die Verbindung abgebrochen wird, willentlich oder bewusst beabsichtigt bedrohen, verletzen oder schwächen wollte. Vielleicht wurde stets mit den besten Absichten und im Rahmen der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gehandelt und kommuniziert. Dennoch kann das Ergebnis im Erleben der anderen Person ein anderes sein. Die dahinterstehende gut gemeinte Absicht entspricht eben nicht immer auch der Wirkung. Sich ansammelnde Missverständnisse und die Unterschiedlichkeit in der Kommunikationsart können Auslöser für abgebrochene Verbindungen sein.
Zweifelsohne ist ein Kontaktabbruch aber notwendig, wenn Leib und Seele existenziell bedroht sind, z.B. aufgrund s*xueller Übergriffe und körperlicher und psychischer Gewaltanwendung.
In manchen Fällen ist ein Kontaktabbruch der einzige Ausweg. Und in anderen Fällen dringend notwendig zur Neusortierung der bisher gelebten Muster in der Familie.
Wie geht man am besten damit um, wenn ein Familienmitglied den Kontakt abbricht?
Die Entscheidung eines nahestehenden Menschen sich aus dem Kontakt zu ziehen, kann unterschiedliche Gefühle bei der zurückgelassenen Person hervorrufen. Auch wenn die Beteiligten keine andere Wahl haben, als die Situation so zu akzeptieren, wie sie ist, kann genau diese Akzeptanz in Form von einem bewussten Annehmen der Situation, und zwar mit den unangenehmen und schmerzvollen Gefühlen, die damit verbunden sind, ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung sein. Annehmen bedeutet weder Gutheißen oder passivem Erdulden der Umstände, sondern ermöglicht es die Wut, Trauer, Scham oder Schuldgefühle zuzulassen und sich damit auseinanderzusetzen. Durch die (Selbst-)Begegnung mit den eigenen Gefühlen und der dahinterliegenden Bedürfnisse kann mehr Handlungsfähigkeit gewonnen werden, die wiederum eine neugierige offene Haltung gegenüber dem sich abwendenden Familienmitglied ermöglicht.
Ist die Bereitschaft auf beiden Seiten da, das Geschehene miteinander aufzuarbeiten und sich auf einer anderen, stimmigeren Beziehungsebene neu zu begegnen, kann dies ein Neuanfang sein. Die Zeit spielt dabei eine wesentliche Rolle. Nämlich einerseits sich die Zeit zu nehmen und zu geben, die der Prozess braucht und gleichzeitig den Zeitpunkt für eine mögliche Annäherung zu nutzen, bevor der Abstand zu groß wird. Hilfreich dafür kann eine familientherapeutische oder systemtherapeutische Begleitung sein, die dem inneren und äußeren Prozess einen geschützten Rahmen bietet.
Der Wunsch der Beteiligten, dass es wieder so werden möge, wie es war, ist nur verständlich. Bei bleibender Sehnsucht ist es gleichzeitig erfahrungsgemäß die Realität, dass nichts wieder so werden kann, wie es war, weil das Leben immer vorwärts gelebt wird. Wir können uns weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft aufhalten. Wir können jedoch in der Gegenwart Gestaltungsmöglichkeiten für die Vergangenheit und die Zukunft schaffen. Und das sollten wir nutzen.
Wie können Kontaktabbrüche vermieden werden?
Meist entsteht ein Kontaktabbruch nicht plötzlich, sondern schleicht sich langsam ein und kann dadurch frühzeitig abgefangen werden, wenn man die Zeichen richtig erkennt. Wenn sich abzeichnet, dass von einer Seite die Beziehung stillschweigend nach und nach auf Eis gelegt wird, sollte das Gespräch gesucht werden. Das erfordert manchmal etwas Mut, weil dadurch vielleicht die bisherigen Rollen in der Familie neu sortiert und bisher gelebte Muster durchbrochen werden. Das Familiensystem gestaltet die ältesten und prägendsten Beziehungen, die wir haben. Dementsprechend eingefahren können die gewohnten Muster des Umgangs miteinander in Interaktion und Kommunikation sein und in starker Wechselwirkung mit den eigenen inneren Prozessen stehen. Da ist es nicht so leicht, Verhaltensweisen und Ansichten zu verändern. Machbar wird es dennoch, wenn die Bereitschaft da ist, sich damit auseinanderzusetzen.
Weil auch wenn eine gewisse Rollenaufteilung in früheren Lebensphasen für den Erhalt des Familiensystems wichtig war oder sonst auch stimmig für das Zusammenleben gewesen sein mag, kann sich dies in der Gegenwart ändern, weil die Rollen nicht mehr für alle Beteiligten passend sind. Meist kommt dies beim Übergang zu neuen Lebensphasen zum Tragen, wie z.B. Pubertät, Erwachsenenalter und wenn die eigene Familie gegründet wird. Die Herausforderung in der gemeinsamen Entwicklungsaufgabe liegt dann auf Seiten der Elternteile, die Kinder als Erwachsene zu sehen, auch wenn sie Kinder ihrer Eltern bleiben, und auf Seiten der Kinder, den Elternteilen ebenfalls auf Augenhöhe von Erwachsenen zu begegnen, die keinen Versorgungsauftrag mehr haben, auch wenn sie immer Eltern bleiben. Das gleiche gilt auch bei vermeintlicher Geschwisterhierarchie, weil aus kleinem Bruder oder großer Schwester Erwachsene werden, die sich auf einer neuen Ebene begegnen.
Gelingt es frühzeitig aus dem Gewohnten herauszutreten, können gemeinsam Bedingungen erschaffen werden, durch die alle Familienmitglieder Wachstum erleben. Die Wirkung der Wechselwirkung der eigenen inneren Prozesse mit dem Miteinander im Familiensystem gilt es dafür zu berücksichtigen. Das erfordert nicht nur die Bereitschaft sich gegenseitig wieder neu zu begegnen, sondern auch sich selbst.